
4.
Daniel stand am geöffneten Küchenfenster und sah gedankenverloren nach draußen. In seiner linken Hand hielt er eine dampfende Tasse, aus der er wie ferngesteuert trank. Es war Nachmittag und für einen Kaffee eigentlich viel zu heiß. Der Sommer hatte sich im Vergleich zum Vortag noch gesteigert und malträtierte Land und Leute mit Temperaturen jenseits der dreißig Grad. Doch Koffein war wichtig und mehr als nur ein Lebenselixier für Daniel.
Mit der freien Hand fuhr er sich durch das schweißnasses Haar und berührte dabei den Zeichenstift, den er sich hinter sein Ohr geklemmt hatte. Neben ihm auf dem Küchentisch, der derzeit mehr Kreativ- als Essbereich war, stapelten sich Dutzende Zeichnungen. Sie enthielten Abbildungen von Personen im Stil amerikanischer Comics der siebziger Jahre, die in verschiedenen Perspektiven dargestellt wurden. Dazu gesellten sich Illustrationen von Würfeln und Spielfiguren, die an die Bestandteile von Brettspielen erinnerten.
Ein lauter Knall riss ihn aus seiner Ruhe. Das Geräusch kam vom Nachbargrundstück schräg unter ihm. Dem Krach folgten Kleidungsstücke, die mit Wucht aus der geöffneten Terrassentür in den Garten geworfen wurden. Daniel hob verwundert eine Augenbraue. Als sich unter die fliegenden Textilien laute, weibliche Schreie mischten, dämmerte ihn, was dort gerade los war.
Zottel hatte Ärger. Und davon offenbar eine Menge.
Dieser Gedanke bestätigte sich, als eine Reisetasche auf dem Rasen landete und mit der Öffnung nach oben liegenblieb. Nur zwei Sekunden später stolperte der hagere Mann hinterher. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, seine Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Er wirkte, als hätte er eine äußerst ungemütliche Nacht gehabt, seine dunklen Augenringe waren selbst aus der Entfernung deutlich zu sehen.
»Kaja, nun hör auf mit dem Scheiß!«
Er gestikulierte verzweifelt in Richtung der Tür und faltete die Hände, als würde er um Gnade flehen. In letzter Sekunde zog er seinen Kopf zur Seite, so dass er einer Laptoptasche ausweichen konnte, die um sich selbst rotierend an ihm vorbei flog.
»Fick dich, Maik!«
»Oh oh Zottel, was hast du getan?«, flüsterte Daniel und beobachtete gebannt, wie der Mann angestrengt weiteren Geschossen auswich und dabei einen, dank seiner schlaksigen Statur, lustigen Tanz vollführte.
»Sieh zu, dass du Land gewinnst! Ich will dich hier nicht mehr sehen!«
Ein lauter Knall folgte. Die Wucht, mit der die Terrassentür ins Schloss geworfen wurde, ließ selbst die Gläser in Daniels Küchenschrank leise klirren.
»Nun komm!«, rief Zottel, der an die Tür herangetreten war und dann, als er sich seiner Situation bewusst wurde, nervös in die Nachbargärten spähte. In sein blasses Gesicht mischte sich ein zartes Rosa, als er Daniel bemerkte, der den entwürdigenden Sachverhalt verfolgte.
»Mach die Tür auf!«, flehte er mit deutlich leiserer Stimme. Er klopfte, doch Kaja ließ sich nicht erweichen. Die Tür war zu, Zottel ausgesperrt. Als auch die Nachbarin, die unter Daniel wohnte, ins Freie trat und zu dem Quell des Lärms hinübersah, hielt er inne. Was folgte, war eine peinliche Stille.
»Meiner Frau geht es nicht so gut«, erklärte er kleinlaut. »Schlimme Phase gerade.«
Zottel versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen, was ihm aber misslang.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte die Nachbarin vorsichtig, obwohl ihrem verhärteten Gesicht anzusehen war, dass sie eigentlich etwas anderes im Sinn hatte.
»Nein, schon gut«, wiegelte Zottel ab und riss sich aus seiner Starre. »Ich fahre in den Urlaub, das haben wir geklärt. Dann kann meine Frau sich ausruhen und erholen. Ich muss nur noch … packen.«
Demonstrativ hob er die leere Reisetasche auf und hielt sie hoch. Die Nachbarin schüttelte ungläubig den Kopf und verschwand im Haus. Auch Daniel schickte sich an, in eine andere Richtung zu gucken, während Zottel im Zickzack durch seinen Garten stolperte und Kleidungsstücke aufsammelte.
*
Das Schrillen der Türklingel riss Daniel aus dem Schlaf. Er lag auf seinem Sofa, in der Hand hielt er die Fernbedienung. Das Fernsehgerät zeigte die Zusammenfassung eines Fußballländerspiels. Er wunderte sich darüber, dass er geschlafen hatte, denn hatte er nicht beabsichtigt. Gähnend fuhr er sich durchs Haar, streckte sich und griff nach dem Stift, der neben ihm in einer der Sofaritzen lag und klemmte ihn sich wie gewohnt hinter das Ohr. Die Türklingel läutete erneut.
»Ja, ja!«, murmelte er und erhob sich schwerfällig. Er schlurfte in den Flur bis hin zur Wohnungstür und sah durch den Spion. Er erblickte Sommersprossen und blondes Haar. Kaja.
Was will die denn von mir?, dachte er verwundert und legte die Stirn in Falten. Seine Nachbarin betätigte abermals die Klingel. Als er gerade die Tür öffnen wollte, hielt er inne. Hektisch sah er an sich herunter. Er trug ein schlichtes, weißes Shirt sowie eine unspektakuläre, graue Shorts. Ein Seitenblick in den Spiegel verriet ihm, dass sein Haar verwuschelt war, doch das konnte er schnell mit ein paar hastigen Handgriffen richten.
Geht schlimmer, dachte er und öffnete die Tür.
»Hi!«, begrüßte Kaja ihn. Sie hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt und grinste Daniel freundlich an. Sie trug ein weißes Top, das kurz geschnitten war und einen flüchtigen Blick auf ihren Bauchnabel zuließ, sowie einen knapp knielangen, fliederfarbenen Rock. Ihre Füße steckten in leichten Sandalen. »Habe ich dich geweckt, oder brauchst du immer so lange, um die Tür zu öffnen?«
»Erwischt«, antwortete er und rang sich ebenfalls zu einem Lächeln durch. In diesem Moment erinnerte er sich daran, dass sie vor wenigen Stunden ihren Mann aus dem Haus geworfen hatte. Er war verwirrt. Was könnte sie von ihm wollen?
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich bin hier, um mich zu beschweren«, gab sie forsch zurück. Ihr Grinsen wich einem ernsten Gesichtsausdruck. Abermals legte Daniel seine Stirn in Falten. Seine Gedanken rasten. Hatte er irgendetwas angestellt? Eigentlich hatte er bei dem bisher einzigen Zusammentreffen mit Kaja etwas Gutes getan, in dem er sie von dem Zaun befreit hatte – oder etwa nicht? Was ist ihr Problem? Hatte sie erfahren, dass er den Streit zwischen ihr und Zottel bemerkt hatte? Das er ihren Mann in dieser peinlichen Situation angestarrt hatte wie einen Affen im Zoo? Wenn ja, würde das bedeuten, dass die beiden sich wieder vertragen hatten?
»Ich verstehe nicht …«
Erst in diesem Moment bemerkte er, dass sie in ihrer freien Hand einen Gegenstand verbarg. Ein gelbes Teil, aus Stoff und …
Schon hielt sie ihm das fragwürdige Objekt direkt vors Gesicht. Es war ein Bikinihöschen, das Bikinihöschen. Das freche Ding, das sich am Vortag im Zaun verfangen hatte.
»Du hast sie kaputt gemacht«, erklärte sie streng und deutete auf abstehende Fasern und Risse im Textil. Daniel war wie vor dem Kopf geschlagen. Er sah sie und das Kleidungsstück abwechselnd an. War das ihr Ernst? Wie undankbar konnte ein Mensch eigentlich sein?
Doch als Daniel sich anschickte, zu protestieren, zerfiel ihre grimmige Miene und sie prustete los. »Hast du mir echt geglaubt, dass ich dich deswegen anmachen würde?«
Seine Verwirrung war perfekt. Und ja, er traute dieser Frau, die ihren Mann mit Kleidung, Koffern und Computertaschen abwarf, so einiges zu.
»Ich verstehe wirklich nicht.«
»Na ja, du bist neu hier und ich wollte dich gerne besser kennenlernen. Und irgendwie fehlte mir ein angemessener Vorwand, um bei dir zu klingeln. Da dachte ich, dass es etwas antiquiert wäre, plump nach Zucker oder Mehl zu fragen. So kam mir die Idee mit dem Höschen.«
Jetzt war es Daniel, der erleichtert auflachte. »Aber ist das Kennenlernen eines Menschen nicht Vorwand genug, um zu klingeln? Wozu diese aufwendige Geschichte?«
Kaja hielt inne, ihr Lachen gefror. »Oh, du hast recht. Irgendwie unnötig.«
Sie wirkte peinlich berührt. Scheinbar hatte sie sich viele Gedanken darüber gemacht, wie sie einen Besuch bei ihm erklären konnte.
»Willst du einen Kaffee trinken?«, fragte er, um ihr weitere Scham zu ersparen. »Oder etwas Kaltes?«
Sie lächelte, ihr breites Grinsen kehrte zurück. »Gerne.«
5.
»Jetzt sehe ich deine Küche auch mal aus dieser Perspektive«, erklärte Kaja und setzte sich an den Küchentisch, nachdem Daniel ihr einen Stuhl angeboten hatte. »Ich konnte von unten durchs Fenster bisher nur die Decke und den oberen Teil des Kühlschrankes sehen.«
»Sehr viel mehr hat sie auch nicht zu bieten«, scherzte ihr Gastgeber und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Dabei drehte er ihr seinen Rücken zu, was Kaja die Möglichkeit bot, seinen Körper zu mustern. Denn das war etwas, das sie am Vortag aufgrund der Aufregung verpasst hatte.
Daniel konnte eine ausgeprägte Schulterpartie sein Eigen nennen. Zudem wirkten seine Beine kräftig, was vermuten ließ, dass er Fußball spielte. Solche Muskeln bekam Mann nicht vom Sitzen vor einem Computer, so wie ihr baldiger Ex. Bei dem Gedanken an Maik verfinsterte sich ihr Blick und tief in ihr flammte ein wütendes Kribbeln auf. Sie durfte nicht an diesen Taugenichts denken. Er war weit weg und sie hatte etwas anderes im Sinn.
Kajas Blick fiel auf Daniels Po, der selbst unter der locker sitzenden Hose fantastisch aussah. Nicht zu groß und auf keinen Fall zu klein. Zum Anbeißen. Das wütende Kribbeln verwandelte sich in etwas freundliches und wohltuendes.
»Mit Milch?«, fragte er und warf ihr über die Schulter ein Lächeln zu. Sie nickte. Als ihr seine strahlend grünen Augen auffielen, die sie an Moos erinnerten, steigerte sich die Wärme abermals. Er ist hübsch, dachte sie und biss sich auf die Lippen.
Sie war mit sich selbst im Reinen. Erstens hatte sie sich getraut, Daniel aufzusuchen, und hatte mit ihrer Selbsteinladung, denn nur so konnte man es nennen, vollen Erfolg gehabt. Zweitens war sie stolz darauf, dass sie ein schlechtes Gewissen Maik gegenüber erfolgreich unterdrücken konnte. Er hatte es nicht besser verdient. Und außerdem hatte sie die Beziehung zu ihm beendet. Vom amtlichen Status ihrer Ehe einmal abgesehen, war sie im Recht. Und die Scheidung würde in einem Jahr durch sein – spätestens.
Daniel kam mit zwei dampfenden Tassen Kaffee an den Tisch und setzte sich ihr gegenüber.
»Weiß oder weiß?«, fragte er und hielt ihr die vollkommen identischen Pötte hin. Sie überlegte gespielt und tat so, als würde ihr die Wahl schwerfallen.
»Weiß«, sagte sie und deutete auf die Rechte.
»Puh!«
»Wieso puh?«
»Die andere ist zufällig meine Lieblingstasse. Zum Glück hast du dich nicht für sie entschieden.«
Kaja starrte ihren Gegenüber einen Moment lang an, dann lachten beide zeitgleich los. Humor hat er, stellte sie zufrieden fest. Im Gegensatz zu Maik, der nur Witze brachte, die Informatiker verstehen konnten, sie hingegen nicht.
Während sie und Daniel den ersten Schluck tranken, entstand ein angenehmes Schweigen. Kaja fühlte sich in der Gegenwart ihres Nachbarn direkt wohl, und das, obwohl sie bisher kaum mehr als eine Handvoll Sätze miteinander geredet hatten.
Sie sah sich in der Küche um. Das baugleiche Design, das sie aus ihrem Haus kannte, unterschied sich nur in der Farbe von ihrem. Während ihre Schränke eine natürliche Eichenoptik aufwiesen, waren Daniels in einem matten weiß lackiert, was dem Raum in Kombination mit dem Aluminiumgrauen Kühlschrank etwas Steriles verlieh. Zumindest wäre es so gewesen, wenn nicht überall gerahmte Bilder hängen würden, die nicht nur Farbe, sondern Style an die Wände brachten.
»Du magst solche Zeichnungen?«, fragte sie und deutete auf eine Collage von Männern und Frauen, die mal im Comic-, mal im Mangastil dargestellt waren. Einige von ihnen posierten wie Superhelden. Manche trugen ausgefallene Kostüme, andere hingegen, meist Damen, waren nackt gezeichnet. Doch war es nicht das primitiv pornografische Nackt, es hatte eher etwas Elegantes, Künstlerisches, Erwachsenes. Insgesamt waren es über vierzig Zeichnungen, die in der Küche ihren Platz gefunden hatten.
»Ja, das kann man so sagen. Ich habe es gerne bunt.«
»Wer hat sie gezeichnet?«
Kaja fiel auf, dass die Bilder im Großem und Ganzem denselben Stil aufwiesen, was auf einen einzigen Künstler hinwies. Daniel grinste verlegen. »Die sind von mir.«
Ihr klappte die Kinnlade herunter. »Was, alle?«
Er nickte bescheiden. »Alle. In meinen anderen Zimmern hängen noch mehr.«
»Wow!«
Kaja war beeindruckt. Dieser Mann wurde immer interessanter. Ein echter Künstler, ein Profi am Stift. »Verdienst du damit dein Geld? Also mit dem Zeichnen?«
Er nickte. Ein Ausdruck von Stolz schlich sich in sein Gesicht. Seine Augen leuchteten, als sie über seine Werke huschten.
»Zumindest teilweise. Ich zeichne nicht ausschließlich, aber die Kunst an sich füllt meinen Kühlschrank.«
»Das musst du erklären. Bist du Comiczeichner?«
Daniel lachte amüsiert. »Nein, keine Comics.«
»Sondern?«
»Das ist etwas umfangreich zu erklären. Zum Beispiel kann man mich mieten. Für Events oder dergleichen. Ich komme dahin und porträtiere die Gäste und Teilnehmer. Je nach Wunsch mal detailliert und ernst, mal witzig, grotesk und absichtlich übertrieben.«
»So wie die Zeichner auf der Kirmes, die jeden vermeintlichen Makel eines Menschen in eine lustige Karikatur umwandeln?«
»Zum Beispiel, ja. Das ist aber nur ein Zubrot. Ein Nebenverdienst, den ich allerdings liebe, da ich mit vielen Personen in Kontakt komme und direkt sehen kann, wie sie auf meine Kunst reagieren.«
Kaja nickte beeindruckt. »Das klingt toll. Ich bin richtig neidisch auf dein Talent. Mehr als krüppelige Strichmännchen bringe ich nicht zu Stande.«
»Besser als nichts«, lachte Daniel, wobei sich feine Fältchen an seinen Augen zeigten.
»Hauptberuflich bin ich aber Spieledesigner.«
Kaja zog interessiert eine Augenbraue hoch. »Für Computerspiele?«
»Nein, keine Computerspiele. Mein Bruder, seine Frau und ich haben ein kleines Start-up gegründet. Wir denken uns Brettspiele aus, die wir in eine Handyapp verwandeln und verkaufen. Während die beiden als Softwareingenieure die Codes schreiben und die App zum Laufen bringen, kümmere ich mich um das Design und die Spielidee.«
»Klingt spannend«, sagte Kaja. Für einen Moment fühlte sie sich an ihren Ex erinnert, der als Programmierer sein Geld verdiente und Computer in seinen Lebensmittelpunkt gestellt hatte. Doch bei Daniel verhielt es sich anders. Er war ein Künstler, ein Kreativer. Das krasse Gegenteil zu Maik. Plötzlich dachte sie an den vorherigen Abend und seiner Erscheinung im Fenster zurück. Ihr fiel ein, dass er etwas hochgehalten hatte, dass wie eine bunte Landkarte ausgesehen hatte. Ein Spielplan. Nein, ein Brettspiel. Es ergab alles einen Sinn.
»Wenn du willst, zeige ich dir etwas von meiner Arbeit«, schlug Daniel vor. Kaja nickte begeistert.
»Komm mit ins Wohnzimmer, da liegt der ganze Kram.«
Sie betraten, mit den Kaffeetassen in der Hand, die Wohnstube. Sie lag direkt neben der Küche und hatte eine rechteckige Form. An einer der kurzen Seiten befand sich die Balkontür, da, wo in Kajas baugleicher Wohnung die Terrassentür war. Auch an den Wänden des Wohnzimmers gab es dank diverser Zeichnungen viel Farbe zu bestaunen. An der Seite, die dem Fernsehgerät gegenüberstand, waren sogar großformatige Werke angebracht. Das Sofa, L-förmig und aus einem grauen Stoff, verströmte einen Duft nach neuem Textil und Holz. Der gläserne Sofatisch war von diversen, unordentlich angehäuften Grafiken übersäht.
»Ziemlich chaotisch, ich weiß«, murmelte Daniel, der Kaja mit einer Handbewegung dazu aufforderte, sich zu setzen. »Aber so entspreche ich wenigstens dem Klischee eines Künstlers.«
Sie lachte verhalten und musterte interessiert die Figuren, die er erschaffen hatte. Dabei handelte es sich unter anderem um Tiere, die übertrieben niedlich dargestellt waren.
»Arbeitet ihr an einer App für Kinder?«
Er nickte. »Ein Brettspiel für das Grundschulalter. Das Konzept dahinter ist Spiel und Spaß mit einem Quäntchen Lerneffekt. Das Oberthema sind Waldtiere und Pflanzen.«
Kaja nickte. »Darf ich?«
Sie griff nach einem Blätterstapel und sah ihn durch. Er enthielt auf jedem Bild dasselbe Tier, einen Fuchs, der aber in verschiedenen Posen und Stimmungen dargestellt war.
»Das ist der Erklärfuchs. Er leitet die Kinder durch das Spiel und daher braucht er unterschiedliche Versionen, die an den entsprechenden Stellen im Game aufploppen.«
Sie trank den letzten Schluck Kaffee und stellte die leere Tasse auf den Tisch, peinlich darauf bedacht, ja keines der Papiere zu berühren.
»Macht ihr ausschließlich Spiele für Kinder?«
»Nein«, begann Daniel zu erklären. »Das ist das Erste. Insgesamt haben wir vier Apps veröffentlicht, alle für Teenager. Aber wir testen uns aus und wollen das Portfolio erweitern.«
»Also auch mal etwas für Menschen in unserem Alter?«
»Ist in Planung, ja.«
»Ein Lernspiel?«
Daniel lachte und verschluckte sich an seinem Getränk. »Nein, das nun wirklich nicht.«
»Wieso?«
»Ach, schon gut.«
Noch immer kam er aus dem Grinsen nicht heraus.
»Jetzt will ich es aber wissen«, lockte Kaja und setzte ein, wie sie meinte, aufreizenden und ehrlich interessierten Gesichtsausdruck auf.
»Ist ein Geheimnis«, zwinkerte Daniel. »Top Secret.«
Kaja zog eine Schnute. Die Neugier, welche sie nie gut unter Kontrolle hatte, hinterließ ein unbefriedigtes Kribbeln. »Ach, komm schon. Du hast mich auf die Fährte gesetzt und kannst keinen Rückzieher mehr machen.«
Er schüttelte standhaft den Kopf und zwinkerte ihr entschuldigend zu. »Sei mir nicht böse. Ist ein Geheimnis. Aber jetzt musst du auch mal etwas von dir erzählen. Wir reden die ganze Zeit nur über mich.«
Es entstand eine Stille, in der Daniel wahrscheinlich erwartete, dass Kaja einen Vortrag startete. Aber sie wusste nicht, wie sie beginnen sollte.
»Darf ich dir eine Frage stellen?«, nahm er ihr die Pflicht ab. Sie nickte. »Geht es dir gut? Ich habe mitbekommen, wie dein Mann, nun …«
»Von mir aus dem Haus gejagt wurde?«
Daniel nickte sichtlich verunsichert.
»Sagen wir es mal so. Er ist nur noch auf dem Papier mein Mann. Aber das werde ich in Angriff nehmen.«
Ihr Gegenüber schluckte, sah nervös an ihr vorbei und kaute auf seiner Unterlippe. »Sorry, ich wollte nicht …«
»Schon gut. Es ist okay, wie es gelaufen ist. Um ehrlich zu sein, war dieser Schlussstrich lange überfällig.«
»Du hast also wirklich Schluss gemacht?«
Lag da etwa Hoffnung in seiner Stimme? Sie klang etwas höher als zuvor.
»Japp. Habe ihn rausgeworfen und zu seiner Mutter geschickt. Seinen Computer und somit seinen wichtigsten Schatz hat er dabei. Und sein beschissenes Tablett ebenso. Dieses Ding will ich nie wieder im Haus haben.«
»Darf ich fragen, was passiert ist?«
Kaja zögerte. Wie ehrlich sollte, nein, wollte sie sein? Eigentlich ging ihm der Niedergang ihrer Ehe nichts an. Aber da all das hier, das Treffen eines Fremden unter erfundenem Vorwand, unfassbar spannend für sie war und zur Frustbewältigung diente, konnte sie sich ruhig darauf einlassen, mit offenen Karten zu spielen. Also nickte sie und begann zu erklären, wie kaputt das Eheleben doch war und wie ihre nackte, beste Freundin letztlich der Tropfen gewesen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Daniel hörte gebannt zu und stellte gezielte Zwischenfragen. Kaja musste sich eingestehen, dass es ihr ein angenehmes Gefühl vermittelte, sich endlich aussprechen zu können. Dass er im Grunde ein Fremder war, störte sie nicht mehr. Nach einer guten halben Stunde war er auf dem aktuellsten Stand.
»Starker Tobak«, grummelte er nachdenklich und sah sie mitleidig an. »Aber du hast richtig gehandelt.«
Sie nickte langsam. In ihren Augen brannten aufkommende Tränen und sie spürte, dass ihre Wangen glühten. »Ich werde es überstehen. Die nächsten Tage werden schwer. Irgendwann muss ich anfangen, unsere Sachen aufzuteilen. Wenn das erstmal geschafft ist, kann Ruhe einkehren.«
»Und das Haus?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Gehört uns beiden.«
Daniel sah sie eine Weile lang an und musterte ihr Gesicht. Dann kam ihm offensichtlich eine Idee. »Trinkst du Wein?«
Kaja nickte. »Alles, wenn es hilft.«
Er verstand und erhob sich. Sekunden später war er im Flur verschwunden. Während es in der Küche gläsern klimperte, sah sie sich weiter um. Unter der Glasoberfläche des Tisches war noch eine zweite Ebene eingezogen. Auch diese enthielt hunderte Zeichnungen, die zu zentimeterhohen Türmen aufgestapelt waren. Neben den Papieren lagen Zeichenstifte, Anspitzer in diversen Größen und eine Menge Farbstaub, wahrscheinlich Abrieb der Stifte. Sie zog einen Stapel hervor, auf dessen oberstem Blatt eine attraktive Blondine abgebildet war. Sie trug ein enges Kleid, hatte eine üppige Oberweite und ihr Gesicht zeigte einen erotischen Blick. Ein Blick, der dem Betrachter versprach, dass heute Nacht alles möglich war.
Sie blätterte durch die Zeichnungen. Auf jedem der Blätter war die gleiche Dame porträtiert, nur in unterschiedlichen Posen. Kaja schluckte, als sie eine Skizze fand, auf der die Frau vollständig nackt gezeichnet war. Sie blätterte weiter. Zu der Nackten gesellte sich schließlich ein unverhüllter Mann und … gewisse Aktivitäten, die beide miteinander ausübten. Sex, Sex und noch mehr Sex. Vaginal, oral und anal. Alles, was das Zeichnerherz begehrte.
»Die solltest du eigentlich nicht sehen«, riss Daniels Stimme sie aus ihrer Recherche. Er stand im Türrahmen, in der Hand zwei bauchige und großzügig mit Rotwein gefüllte Gläser, in der anderen die passende Flasche. Sie hätte erwartet, dass er über ihre Neugier verärgert war, doch sein Gesichtsausdruck blieb neutral, gar interessiert.
»Für welches Spiel ist diese Dame mit ihrem Freund gedacht? Kindertauglich ist es aber sicherlich nicht.«
Daniel seufzte. Dann kam er zu ihr herüber, überreichte ihr ein Glas und hielt ihr seines zum Anstoßen entgegen. Es klirrte leise.
»Diese Dame gehört zu dem Spiel, das wir für Erwachsene entwickeln.«
Kaja grinste zufrieden. Das Geheimnis war gelüftet. »Ein erotisches Gesellschaftsspiel also?«
»Hm«, überlegte Daniel. »Erotik ist ein ziemlich harmloser Begriff für das, was wir geplant haben. Es wird eher ein Trinkspiel für Erwachsene. Ein sehr«, er zögerte kurz, als suchte er nach dem richtigen Begriff. »Ein sehr interaktives Brettspiel, sozusagen.«
»Jetzt spann mich nicht auf die Folter. Erzähl mal etwas davon.«
Er wirkte verunsichert. Kaja biss sich auf die Unterlippe. War sie zu forsch vorgegangen? Immerhin war sie gerade erst dabei, Daniel genauer kennen zu lernen. Wahrscheinlich dachte er, sie sei aufdringlich und unhöflich. Ein schlechtes Gewissen plagte sie. Kribbelte in ihrer Brust wie Dutzende Ameisen auf der Suche nach Zucker. Aber sie konnte nicht anders. Etwas in ihr, sei es ihre durch Maik gekränkte Eitelkeit, oder der Wunsch nach Neuem, zwang sie dazu, das Thema weiter zu hinterfragen. Und plötzlich war sie sich sicher, dass die Ameisen keinen Zucker suchten – sondern einen Kick, eine frische Erfahrung, etwas Heißes.
»Na ja«, begann Daniel zögerlich zu erklären. »Es ist halt ein Brettspiel. Wer die Strecke zuerst abschreitet, gewinnt. Doch zwischendurch gibt es gewisse Felder, die etwas von dem Spieler verlangen.«
»Zum Beispiel?«
»Du bist ziemlich neugierig«, sagte er und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Schon mal etwas von Betriebsspionage gehört?«
»Erwischt. Ich arbeite eigentlich für einen euerer Konkurrenten und soll eure Spielidee klauen.«
Kaja zog ihr Smartphone hervor und tat so, als würde sie Notizen darauf eingeben. »Erotisches Brettspiel mit sexy Karikaturen und Aufgaben. Idee aufgreifen und als Eigenentwicklung vermarkten.«
Daniel prustete los vor Lachen. Als er sich beruhigt hatte, hielt er ihr erneut sein Glas entgegen. »Darauf stoßen wir an. Konkurrenz belebt das Geschäft.«
Die Gläser klirrten. Der Wein schmeckte fantastisch.
»Was passiert denn nun, wenn ein Spieler eines dieser Felder trifft?«
»Du gibst wirklich nicht auf, was?«
Kaja schüttelte den Kopf. Daniel seufzte.
»Okay, ich erzähle es dir. Es kann aber sein, dass ich dich im Anschluss umbringen muss.«
»Das Berufsrisiko einer Spionin.«
»Eigentlich ist es ganz simpel. Es gibt drei Arten von Feldern. Das eine Feld zwingt dich, eine Frage zu beantworten. Am Anfang des Spiels sind sie eher harmlos, steigern sich aber bis zum Ende in ihrer Brisanz. Ein anderes verlangt von dir, etwas zu tun. Das Prinzip gleicht dem der Fragefelder. Zu Beginn ist es simpel, dann wird’s ernst. Der dritte Feldtyp ist ein Trinkfeld. Alkohol macht das Spiel leichtgängiger.«
In Kajas Brust kribbelte es erregt. In ihr explodierte ein Wunsch, während sie erst die Bilder der nackten Figuren, dann Daniel musterte. Sie wünschte sich, und das hätte sie von sich niemals erwartet, ein solches Spiel zu spielen. Und das nicht mit irgendwem.
»Hast du das Spiel schon getestet?«
Er zog verwundert eine Augenbraue hoch. »Natürlich nicht. Das ist bisher auch nur ein Konzept mit groben Spielplanzeichnungen und Ausführungen der Aktionen und Bildern. Wieso fragst du?«
Den letzten Satz sprach er in einem skeptischen Ton aus. Kaja antwortete nicht direkt. Stattdessen betrachtete sie sein Weinglas, das beinahe leer war. Dann fiel ihr Blick auf die Flasche, die am Rand des Tisches stand.
»Darf ich?«, fragte sie und deutete darauf. Er nickte. Sie schenkte beiden so viel Wein ein, dass die Flasche leer und die Gläser randvoll waren. Er beobachtete sie dabei. Still und aufmerksam. Ob er ahnte, was in ihr vorging? Er wirkte verunsichert. Aber nicht auf die unangenehme Art und Weise. Nicht so, als würde seine nächste Aktion die Flucht sein. Beziehungsweise, ihr Rausschmiss aus seiner Wohnung. Nein, seine Haltung hatte etwas Offenes an sich. Verunsichert, aber offen.
Kaja nahm ihren Mut zusammen und hielt ihm sein Glas vor das Gesicht. »Lass und noch einen Schluck trinken.«
»Okay …«, sagte er langsam. Dann, nachdem beide getrunken hatten, sprach sie die Worte aus, die ihr das Ameisenkribbeln in ihrer Brust ihr befahlen.
»Spiel mit mir!«