
2.
Kaja lag im Bett und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Draußen war es stockfinster und sie konnte die zirpenden Grillen hören, die sich der Geräuschintensität nach in Scharen in den umliegenden Büschen und Gräsern versammelt haben mussten. Die Gerüche von Sommer und Grillfleisch lagen in der Luft, irgendwo in der Ferne spielte Musik.
Die Schlafzimmertür knarrte und sie wandte ihren Blick vom Fenster ab. Maik hatte den Raum betreten.
»Hey«, begrüßte er sie knapp. »War das ein Tag. Ich bin rotzefertig.«
»Hm«, antwortete sie. Ihre Miene verfinsterte sich, wie so oft, wenn er von der Arbeit zurückkam. Wie geht es dir, Schatz?! Wie war dein Tag, Schatz?!
Nein, in seiner Welt gab es nur sich selbst. Sie wusste es. Und sie war keinen Deut besser. Auch das wusste sie. Smalltalk verläuft in zwei Richtungen. Nur hatte sie keine Kraft mehr, nein!, keine Lust mehr, sich tiefgründig mit ihm zu unterhalten. Beide dachten nur an sich und ihre eigenen Probleme. Ihre Ehe war so tot, wie sie es nur sein konnte. Der Versuch, mit dem Umzug in ein neues Haus frischen Wind in die eingeschlafene Beziehung zu bringen, war gescheitert.
Maik stand vor dem bodentiefen Wandspiegel und fuhr sich mit einer Hand durch das schulterlange Haar. Sie fröstelte. Wie sie seine Haare hasste! Waren sie einst modern geschnitten gewesen, so hatte er sie in den letzten beiden Jahren erbarmungslos wachsen lassen. Kaja hatte nichts gegen Langhaarfrisuren bei Männern, aber ihr Gatte hatte es geschafft, seinen Look durch einen Pflegeboykott zu ruinieren. Seine Haare wirkten vernachlässigt, verfilzt und total verlottert. Bäh!
»Wie war es auf der Arbeit?«, zwang sie sich mit kühler Stimme zu fragen. Und das nicht, weil es sie interessierte, sondern, weil sie am Ende, wenn die Ehe endgültig aus war, sagen konnte, dass sie es bis zum Schluss mit Interesse versucht hatte. Taktik.
Sie biss sich frustriert auf die Unterlippe. Diese Gedanken waren falsch. Dieses Taktieren innerhalb einer Beziehung war absolut verwerflich und kindisch. Sie wusste es. Und doch schaffte sie es nicht, sich über ihre Frustration hinwegzusetzen.
»Das würdest du nicht verstehen«, antwortete er beiläufig und wandte sich zu ihr um.
Wut stieg in ihr hoch.
»Versuch es doch einmal«, sagte sie bissig. »So dumm bin ich nicht!«
»So war das nicht gemeint. Ich wollte damit nur sagen, dass es zu kompliziert ist, um es ohne Kontext zu verstehen. Computerzeugs halt.«
Sie taxierte ihn mit einem ernsten Blick, dann wandte sie sich ihrem Smartphone zu. Soll er doch an seine blöden Computer denken, dachte sie wütend und scrollte durch ihren Newsfeed. Soll er doch seine beschissenen Computer heiraten.
»Schläfst du jetzt?«, wollte er beiläufig wissen.
»Nein, ich sitze wach im Bett und rede mit dir.«
Er rollte mit den Augen. »Das ist mir schon klar. Aber was machst du im Anschluss? Gehst du noch einmal ins Bad oder in die Küche?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Eher nicht. Ich schalte bald das Licht aus.«
»Dann schlaf gut«, murmelte er und verließ das Schlafzimmer. Kaja hörte am Ende des Flures, wie die Badezimmertür ins zufiel.
Schlaf gut, wiederholte sie im Geiste. Wütend scrollte sie durch ihre Social Media Kanäle und als diese nichts mehr hergaben, schloss sie das Gerät an ein Ladekabel an und legte es auf den Nachttisch. Sie schaltete die Nachttischlampe aus. Dunkelheit breitete sich aus. Nur das Licht, das unter dem Türspalt des Badezimmers hervorquoll, warf einen gelben Schein in den Flur. Kaja stöhnte genervt. Hätte ihr Göttergatte nicht wenigstens die Schlafzimmertür zu machen können?
Wut kochte in ihr hoch. Wie sie diesen Kerl allmählich verachtete. Diesen ungepflegten, schlappschwänzigen Nichtsnutz, der es nicht einmal schaffte, Türen vernünftig zu schließen. Jede noch so kleine Tat von ihm genügte mittlerweile, um böse über ihn zu denken. Dabei hatte ihre Beziehung so verheißungsvoll begonnen, war voller Liebe, Freundschaft und … Kaja ballte die Hände zu Fäusten. Das war lange her gewesen. Monate, gar Jahre.
Sie spürte, wie die Müdigkeit nach ihr griff und sie tiefer in die Matratze zog. Sie warf der offenen Tür einen finsteren Blick zu. Sei es drum. Es geht auch so.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf den frisch bezogenen und gut riechenden Bettbezug. Dachte an den Tag, an den Sommer. Doch dann machte ihr Herz einen gequälten Sprung, als ihr die Peinlichkeit wieder einfiel, die ihr beim Übersteigen des Zaunes passiert war. Wie tölpelhaft sie versucht hatte, sich zu befreien. Wie erst dieser junge Mann, Daniel, sie aus ihrer misslichen Lage hatte retten können.
Sie spürte Hitze in ihr Gesicht steigen, als sie sich an seine Berührungen erinnerte. Sein Handrücken hatte ihre Beine berührt, seine Finger beinahe noch mehr, wäre der Stoff ihres Bikinihöschens nicht gewesen …
Ja, der liebe Mann, nein, der Held des Tages, war ein Hübscher. Und zuvorkommend. Gepflegt, mit ordentlich frisierten Haaren, wie es sich gehörte. Nicht so wie ihr … Ehemann.
Sie öffnete die Augen und verengte sie zu Schlitzen, die geöffnete Schlafzimmertür und das vom Bad ausgehende Licht fest im Blick. Die verdammte Tür hatte geschlossen zu sein!
Mit einer energischen Bewegung riss sie die Bettdecke hinunter und sprang auf. Schnellen Schrittes durchquerte sie das Schlafzimmer und hatte ihre Hand schon auf der Türklinke, als sie ihren Plan änderte. Wenn sie die bequeme Wärme ihres Bettes verlassen musste, dann sollte Maik es auch mitbekommen. Wütend stampfte sie zum Bad und ohne zu klopfen riss sie die Tür auf.
»Mach beim nächsten Mal die Schlafzimmertür …«, doch weiter kam sie nicht.
»Kaja!«, schrie Maik auf, der erschrocken am Boden auf einem Badteppich hockte, den Rücken an die Duschwand gelehnt. Er war nackt, zumindest untenherum. Sein Penis ragte steif nach oben. In der Hand hielt er sein Tablet, auf dessen Display eine entblößte Frau zu sehen war. Sie traute ihren Augen nicht.
»Man!«, schrie er und sprang auf, während sein Schwanz, von dichtem Lockenwuchs umgeben, hin und her schwankte.
»Wichst du dir einen?!«, stammelte sie perplex. Mit diesem Bild hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Aber gut, da zwischen ihnen seit Monaten nichts mehr im Bett lief, war es logisch, dass er seinen Ausgleich woanders suchte. Nur hatte er es bis dato immer gut vor ihr verheimlichen können.
»Verdammt, klopf doch gefälligst!«, jammerte er. Plötzlich fiel sein Tablett herunter und landete mit dem Display nach unten vor Kajas Füßen. Bevor er die Gelegenheit dazu bekam, hob sie es hastig auf. Sie wollte sehen, zu welchem Typ Frau er es sich besorgte. Welche Sie es schaffte, seine Libido zu aktivieren.
Er versuchte, ihr mit fahrigen Fingern das Gerät zu entreißen, doch es war zu spät. Sie hatte das Weib auf dem Display gesehen – und sofort erkannt. Nur konnte das nicht sein! Um Gottes willen, das war nicht möglich!
Ihr blickten die vertrauten Augen ihrer besten Freundin Michelle entgegen.
Perplex starrte sie auf das Bild, während Maik noch immer versuchte, sein Tablet zu erhaschen.
»Gib es mir!«, zeterte er. Kaja trat einen Schritt zurück und gebot ihm mit erhobener Hand, den Mund zu halten.
»Woher hast du dieses Bild?«, fragte sie, während tausende Fragen durch ihren Kopf rasten. Hatten die beiden eine Affäre? War Michelle der Grund, warum es zwischen ihnen nicht mehr lief? Und warum kam ihr dieses Foto so … merkwürdig bekannt vor? Dieses Lächeln hatte sie an ihr schon irgendwo gesehen …
»Das geht dich nichts an!«
Kaja verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Maik taumelte benommen zurück, im Gesicht ein knallroter Abdruck. »Woher hast du dieses Foto?!«
Sie schrie aus voller Kehle, getrieben von tiefgründiger Scham. Er starrte sie entgeistert an und rieb sich die Stelle, an der sie ihn erwischt hatte. Wieder hob sie die Hand zum Schlag.
»Schon gut«, jammerte er. »Schon gut!«
Kaja konnte die Antwort kaum erwarten. Von ihr würde so viel abhängen, so wie zum Beispiel das Verhältnis zu Michelle und der Stand ihrer und Maiks Ehe. War dies endlich der finale Grund, diesen Kerl zu verlassen?
»Und?«
»Das ist ein Deepfake«, erklärte er mit bebender Stimme. Er klang wie ein Mädchen, ein weinerliches, verängstigtes Frauenzimmer. »Der Kopf ist mittels KI auf einen anderen Körper gesetzt worden.«
Kaja verstand erst nicht, doch dann setzten sich seine Worte zusammen und ergaben einen Sinn. Sie dachte von sich, dass sie vor Wut schreien würde. Dass sie Ausrasten und um sich schlagen würde. Dass sie ihre verletzte Ehre mit Gewalt wiederherstellen musste. Aber es kam anders. Sie lachte. Sie lachte schallend auf und legte all ihre Abscheu, all ihren Hass, den sie mittlerweile für Maik empfand, in die nächsten Worte.
»Du bist ein jämmerlicher Wichser«, begann sie mit erstaunlich ruhiger Stimme. »Dass du so etwas nötig hast! Dass du …«
Sie hielt inne, starrte in seine vor Verwunderung und Scham aufgerissenen Augen.
»Es ist vorbei!«, flüsterte sie. »Es ist vorbei. Und weißt du was? Es ist mir egal!«
Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte davon. Hinter sich hörte sie noch seine flehenden Rufe, aber das Knallen der Haustür schnitt diese jäh ab. Eine angenehm kühle Sommerluft empfing Kaja, die frei wie eine Feder in die Nacht spazierte.
3.
Kies knirschte unter Kajas weißen Chucks. Sie schlenderte gedankenverloren einen breiten Weg entlang, der sie um den örtlichen Badesee in Rufweite zur Neubausiedlung führte. Auf der Wiese zu ihrer rechten saßen junge Menschen in munter schwatzenden Gruppen zusammen. Es roch nach Gegrilltem und Tabak. Das Wasser links von ihr schwappte leise an das grasbewachsene Ufer.
Alles andere als leise hingegen waren Kajas Gedanken, die wütende Kreise durch ihren Kopf zogen und ein heilloses Durcheinander hinterließen.
Dieser Mistkerl! Dieser miese Schlappschwanz! Dieser Betrüger!
Der Standpunkt, dass eine Trennung von Maik ihr egal sei, war einer nüchternen Tatsache gewichen: Sie hatte sich etwas vorgemacht. Aber nicht aus dem Grund, weil sie ihn liebte und nicht verlieren wollte. Ha! Nein. Sie fühlte sich gedemütigt und verraten. Wie lange schon hegte er diese Zuneigung gegenüber Michelle bereits? War jene Zuneigung der Grund dafür, dass die Beziehung schleichend den Bach heruntergegangen war?
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Und obwohl sie schnell über ihre Wange wischte, konnte Kaja nicht verbergen, dass zumindest für einen Moment eine Träne auf der Haut glitzerte.
Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche, entsperrte es und tippte auf das Telefonicon, so wie sie es in den letzten Minuten oft getan hatte. Ihr Finger verharrte über der Nummer von Michelle. Sie wollte mit ihr sprechen. Musste mit ihr sprechen. Selten hatte sie die Aufmunterung ihrer besten Freundin so gebraucht, wie in diesem Moment. Und doch brachte sie es nicht fertig, den Anruf zu tätigen. Zu tief war Michelle in das verwickelt, was Kaja auf dem Display von Maiks Tablet gesehen hatte, wenn auch ohne eigenes Zutun. Seufzend steckte sie ihr Handy ein. Sie würde es schon noch schaffen, sie anzurufen, aber sie musste erst einmal eine Nacht drüber schlafen.
Schlafen. Als ob. Der Gedanke an Schlaf war so weit weg wie eine intakte Beziehung zu Maik. Kaja würde in dieser Nacht kein Auge schließen können, denn es galt an vieles zu denken. Ein Leben, das bis vor einer Stunde noch zu zweit geführt worden war, musste geteilt werden. Es galt zu klären, was mit dem Haus passierte würde. Wer bekam das Auto? Wer den Fernseher, das Sofa, das Bett … Nur bei dem Tablet wusste Kaja genau, dass sie niemals einen Anspruch darauf erheben würde. Bei dem Gedanken an Maiks Sperma, das im Beisein der Fakefotos von Michelle auf dem Gehäuse des Gerätes gelandet und somit auch auf an ihre Hände gelangt war, wenn sie es nutzte, ließ sie erschaudern.
Vor ihr gabelte sich der Weg. Während er links erneut um den See herumführte, führte der andere Zweig zur Neubausiedlung. Kaja stoppte seufzend. Sie gestand sich ein, dass sie irgendwann den Weg nach Hause antreten musste. Es würde ihr nichts bringen, den See ein sechstes Mal zu umrunden. Sie atmete tief durch. Und einer spontanen Eingebung folgend fasste sie einen Entschluss. Sie würde all ihre Enttäuschung und Wut bündeln und dazu nutzen, Maik auf das Sofa im Wohnzimmer zu verbannen. Im Schlafzimmer hatte er nichts mehr zu suchen. Im Anschluss würde sie versuchen, zu schlafen, denn ausgeruht dachte es sich besser. Morgen würde sie überlegen, wie die nächsten Schritte aussehen würden.
Vielleicht vertrieb sie ihren Göttergatten auch ganz aus dem Haus – seine Mutter wohnte nur eine halbe Stunde entfernt und er würde dort sofort unterkommen können. Das würde gut passen, denn so könnte er der Rentnerin erklären, wie er die Ehe mit ihrer Lieblingsschwiegertochter in den Sand gesetzt, beziehungsweise, gewichst hatte.
Entschlossen und mit wachsender Aufbruchsstimmung ging sie los. Als sie das Wohngebiet erreichte, passierte sie die Neubauten, welche sich glichen wie ein Ei dem anderen. Nur ihr Gartentor, im Gegensatz zu denen der Nachbarn grün statt schwarz lackiert, brachte etwas Varianz hervor.
Kaja legte sie die Hand auf die Klinke, hielt inne und unterdrückte ein leises Schluchzen. Sie musste stark sein. Ihren Plan durchziehen. Sich keine Schwäche anmerken lassen. Leichter gesagt als getan. Sie drohte zu scheitern. Ihre neu gewonnene Kraft hatte sie verlassen.
Traurig glitt ihr Blick über den von der Sonne gequälten Rasen. In regelmäßigen Abständen positionierte Gartenleuchten verbreiteten einen warmen, gelben Schein, der sich auf die Zierpflanzen legte, die sie in akribischer Arbeit in die Erde gebracht hatte. Das Licht ließ die Blätter und Hälse der Blumen lange Schatten werfen. Auf dem Gartentisch lagen noch immer der Federball samt Schläger, die sie am Tag benutzt hatte, um sich die Langeweile zu vertreiben, bis …
Sie erinnerte sich an die peinliche Situation, als sich ihr Bikinihöschen im Zaun verfangen hatte. Ihr Blick glitt hinauf zu den Fenstern der Wohnung von Daniel, der ihr bei diesem ungewöhnlichen Problem geholfen hatte. Bei ihm brannte Licht. Es musste sich, wenn sie sich den baugleichen Grundriss ihres Hauses vor Augen führte, um die Küche handeln.
Er war nett gewesen, überlegte sie und erinnerte sich an die schüchterne Sorgfalt, die er bei der Lösung ihres Problems an den Tag gelegt hatte, und an die Berührungen, die ihm sichtlich schwergefallen waren. Auch sie hatte es befremdlich gefunden, dass er sie an den Oberschenkeln und ja, irgendwie an die Schamlippen berührt hatte, wenn gleichermaßen mit einer Lage Stoff dazwischen.
Warum eigentlich? Warum war es ihr unangenehm gewesen?
In Anbetracht der Umstände, dass sie nunmehr in Trennung lebte, war sie eine freie Frau. Sie konnte es sich erlauben, diese Berührungen als angenehm zu empfinden – oder redete sie sich dies nur ein? Streng genommen war die Beziehung zu Maik in jenem Moment der Not nicht beendet gewesen. Erst einige Stunden später hatte sie den Schlussstrich gezogen. Aber was war dieser Anflug von Anstand noch wert? Was konnte sie sich davon kaufen, wenn sie das Erlebte verdrängte und in ihrer Erinnerung einschloss?
Nichts. Gar nichts.
In diesem Moment trat Daniel vor das Fenster. Kaja zuckte erschrocken zusammen, doch er stand mit dem Rücken zu ihr und hatte sie nicht gesehen. Er beugte sich vor und betrachtete etwas, das sich vor ihm befand. Hinter einem seiner Ohren klemmte ein Stift. Nachdem er einige Sekunden reglos verharrte, richtete er sich auf und hielt ein großes Stück Papier vor sich hoch, das mit allerhand Farben verziert war. Sie konnte nicht erkennen, was genau darauf gezeichnet war, doch sah es aus wie eine Landkarte, wie eine … Schatzkarte. Daniel legte das Blatt wieder ab, kratzte sich am Kopf, zog den Stift hinter seinem Ohr hervor und ließ ihn über die Zeichnung gleiten. Während er mit feinen Bewegungen etwas zeichnete, musterte sie seinen Körperbau, der ihr erst in diesem Moment so richtig aufgefallen war.
Er hatte ein breites Kreuz, über dem sich ein weißes T-Shirt spannte. Seine Oberarme waren muskulös und strahlten eine Kraft aus, die ihr baldiger Exmann selbst in seinen besten Zeiten nie besessen hatte. Schade, dass ich ihn nicht ganz sehen kann, dachte Kaja.
Mit einem Mal explodierte ein Wunsch in ihrem Inneren. Sie durfte nicht zulassen, dass das kurze Treffen am Zaun das einzige zwischen ihnen gewesen war. Sie musste ihn wiedersehen und in Gänze zu betrachten.
Und wenn er dir gefällt, dann nimmst du ihn dir!
Diesen Auftrag gab sie sich selbst. Sie durfte es. Sie hatte das Recht dazu. Denn sie war eine freie Frau, mit einem Ex, der keine Ansprüche an sie und ihr zukünftiges Liebesleben anzumelden hatte.
Aber wie sollte sie es anstellen? Sie konnte kaum bei ihm klingeln und klischeegetreu nach einer Tasse Zucker fragen – oder?
Warum eigentlich nicht? Was wäre daran verwerflich? Wer eine Dame in Not von einem fiesen Zaun zu retten wusste, würde auch verleihbaren Zucker im Hause haben.
Das Licht erlosch. Kaja war so in Gedanken verloren gewesen, dass sie nicht mitbekommen hatte, wie Daniel den Raum verlassen hatte. Seine Wohnung lag in vollkommener Dunkelheit da. Egal, wie sie es anstellen würde, ihm einen Besuch abzustatten, sie würde sich gedulden und ihr Vorhaben in den neuen Tag verschieben müssen. Und das war gut so. In diesem Moment zählten andere Dinge. Ein Kampf musste gekämpft werden.